Unsere Arbeitsdefinition von Gewaltfreiheit beruht auf der Sehnsucht, aller Gewalt ein Ende zu bereiten ohne weitere Gewalt zu verursachen; dies schließt physische Gewalt ebenso ein wie sogenannte ’strukturelle’ und ’kulturelle’ Gewalt (siehe 1.5 ‚Gewalt’). Dieses Handbuch wurde von Menschen aus aller Welt mit unterschiedlichen Blickwinkeln zur Gewaltfreiheit geschrieben.

Viele Organisationen und Kampagnen, die sich zur Gewaltfreiheit bekennen, verfassen Stellungnahmen zu ihren gewaltfreien Prinzipien, die ihre Perspektive erklären. Die WRI schreibt in ihrer Grundsatzerklärung:

Die WRI bekennt sich zur Gewaltfreiheit. Für einige unter uns ist Gewaltfreiheit eine Lebensweise. Für uns alle ist es eine Aktionsform, die das Leben bejaht, die sich gegen Unterdrückung ausspricht und den Wert einer jeden Person anerkennt.

Dieses ’Handbuch für gewaltfreie Kampagnen’ wurde verfasst, um die Arbeit von Gruppen zu unterstützen, die Gewaltfreiheit in Aktionen umsetzen.

Gewaltfreiheit kann aktiven Widerstand, einschließlich zivilen Ungehorsams, mit Dialog verbinden, sie kann Nicht-Zusammenarbeit - den Entzug der Unterstützung für ein unterdrückerisches System - mit konstruktiver Arbeit am Aufbau von Alternativen verbinden. Bei einem Engagement in einem Konflikt stellt Gewaltfreiheit auch manchmal den Versuch dar, Versöhnung zu bringen: Stärkung der sozialen Strukturen, Stärkung der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten, und Einbeziehung von Menschen der verschiedener Konfliktparteien auf der Suche nach einer Lösung. Selbst wenn diese Ziele nicht unmittelbar erreicht werden können, so bleibt Gewaltfreiheit die Basis unserer Entschlossenheit, andere Menschen nicht zu vernichten.

aus der WRI Grundsatzerklärung

Gewaltfreiheit kann weitergehende Entwicklungen bewirken wie z.B. den Wunsch Machtverhältnisse und soziale Strukturen zu verändern; sie kann eine respektvolle Haltung gegenüber den Menschen und allem Lebendigen sein oder sogar eine Lebensphilosophie. Wir möchten euch ermuntern solche Ideen auszuprobieren. Die Entdeckung von Differenzen und der Austausch von Einsichten in die Idee der Gewaltfreiheit kann eine Bereicherung für die Arbeit einer Gruppe sein, die eine gewaltfreie Aktion vorbereitet.

Menschen entscheiden sich aus verschiedenen Gründen für Gewaltfreiheit. Einige befürworten Gewaltfreiheit, weil sie Gewaltfreiheit für eine effektive Technik halten, den gewünschten sozialen Wandel zu erreichen; andere suchen einen Weg, Gewaltfreiheit als Lebensweise zu praktizieren. Hier gibt es ein breites Spektrum und viele Menschen werden sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen wiederfinden. Wenn bei Kampagnen Differenzen dieser Art auftauchen, können eine Grundsatzerklärung oder spezifische Leitlinien für eine bestimmte Aktion einen Rahmen für unterschiedliche Auffassungen innerhalb einer Gruppe schaffen (siehe ‚Aufrechterhaltung von Gewaltfreiheit während einer Aktion’ 3.4).

Unterschiede im Verständnis von Gewaltfreiheit können eine Quelle von Missverständnissen sein und sollte offen besprochen werden. Beispielsweise könnte die Frage von Sachbeschädigung kontrovers beantwortet werden: Während einige gewaltfreie AktivistInnen Sachbeschädigung zu vermeiden suchen, befürworten andere, durch Sachbeschädigung die Kosten für die GegnerInnen zu erhöhen (siehe ‚Gewalt’ 1.5).

Gewaltfreiheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt und mehr als ‚Nein’ zu sagen. Als gewaltfreie AktivistInnen wollen wir auch, dass unsere Aktivitäten und unser Verhalten Abbilder einer Zukunft sind, die wir gestalten wollen. Wenn wir Begriffe wie ‚"Den Mächtigen die Wahrheit sagen", "Bejahung des Lebens", oder "Respekt vor Verschiedenheit" in den Mund nehmen, berufen wir uns auf Grundwerte, die eine Quelle der Stärkung für uns darstellen und einen Ansprechpunkt für diejenigen bieten, die wir erreichen wollen.

Die pragmatische Dimension aktiver Gewaltfreiheit

Aktive Gewaltfreiheit dient dazu, Kriege, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung zu beseitigen, um Konflikte aller Art zu lösen oder einfach um ein selbstverantwortliches, gesundes Leben zu führen. Im Allgemeinen versteht man darunter ein Set von Überzeugungen mit ethischen Dimensionen. Historisch gesehen, gibt es weltweit viele unterschiedliche Traditionen deren Prinzipien und ethischen Grundsätze mit Gewaltfreiheit harmonieren. Unglücklicherweise wird nicht gesehen, dass diese Prinzipien ebenso eine klar vorzeigbare pragmatische Dimension aufweisen.

Die Unterscheidung zwischen Ethik und Wirksamkeit dürfte eher illusionär als real sein. Die Praxis des Verzichts auf Gewalt oder angemessener formuliert, die aktive Gewaltfreiheit, hat eine praktische Grundlage: Gewaltfreiheit maximiert die Chance eines positiven Ausgangs. Selbstverständlich garantiert der Weg der aktiven Gewaltfreiheit - wenigstens kurzfristig - kein positives Ergebnis ebenso wenig wie der Pfad der Gewalt. Unsere täglichen Erfahrungen, und nicht zu vergessen die wachsende Zahl von empirischen Daten aus unserer bluttriefenden Geschichte, bescheinigen der aktiven Gewaltfreiheit, zumindest langfristig, eher ein positives Ergebnis zu erreichen.

Wie oben angedeutet hat das Wort ‚Gewaltfreiheit’ viele Bedeutungen. Dieses Handbuch ist speziell über Gewaltfreiheit in Aktion, oder: ‚Wie Gewaltfreiheit ein Instrument darstellt, um Gewalt und Unterdrückung herauszufordern?’ Aus diesem Grunde sind die Prinzipien für ‚aktive Gewaltfreiheit’ gedacht. Aus Zweckmäßigkeit benutzen wir im Text nur den Ausdruck ‚Gewaltfreiheit’.

Wie kann Gewaltfreiheit eine Kampagne stärken?

Gewaltfreiheit stärkt eine Kampagne auf drei Ebenen:

1. In Bezug auf die eigenen Mitglieder

Die Förderung von Vertrauen und Solidarität unter den TeilnehmerInnen führt idealerweise dazu, dass sie mit ihrer eigenen Wirkmacht in Berührung kommen und in der Situation handlungsfähig werden. Viele Menschen nehmen ihre eigene Kreativität nicht wahr, bis sie durch Unterstützung von anderen, etwas Neues ausprobieren.

2. In Bezug zu den GegnerInnen einer Kampagne

Gewaltfreiheit zielt darauf ab, die Gewalt der GegnerInnen zu hemmen oder sicherzustellen, dass gewaltsame Repression auf die Unterdrückenden politisch zurückfällt. Darüber hinaus versucht der gewaltfreie Ansatz das Machtgefüge der unterdrückenden Institutionen zu untergraben (siehe ‚Säulen der Macht’ 5.8 oder ‚Das Spektrum der Verbündeten’ 5.12).

Gewaltfreie AktivistInnen betrachten die Mitglieder einer gegnerischen Gruppe nicht als leblose Werkzeuge, sondern zeigen ihnen Möglichkeiten auf, ihre Loyalitäten zu überdenken.

Der Pionier der gewaltfreien Theorie, Gene Sharp, erkannte vier Mechanismen für Veränderung bei den GegnerInnen eines gewaltfreien Kampfes:

  1. Übertritt: Gelegentlich überzeugt eine Kampagne die GegnerInnen von ihrem Standpunkt.

  2. Druck: Manchmal kann eine Kampagne mit entsprechendem Druck ihre GegnerInnen dazu bringen nachzugeben, ohne dass diese von der Richtigkeit des Standpunktes der AktivistInnen überzeugt wären.

  3. Entgegenkommen: GegnerInnen kommen einer Kampagne entgegen ohne auf Macht zu verzichten, Konzessionen werden angeboten ohne alle Forderungen der Kampagne zu erfüllen.

  4. Auflösung: Sharp fügte diesen Mechanismus 1989 zu seinen Überlegungen hinzu; der Sowjetunion nahestehende Regime büßten soviel Legitimität ein und wiesen so wenig Kapazität zur Selbsterneuerung auf, dass sie angesichts der Herausforderung durch die ‚Macht des Volkes’ zerfielen (siehe ‚Formen gewaltfreier Aktion’ 3.9).

3. In Bezug zu den bislang Unbeteiligten

Gewaltfreiheit ändert die Qualität der Kommunikation mit Unbeteiligten oder ‚AußenseiterInnen’ – d.h. Menschen, die bisher von dem Thema nicht betroffen sind bzw. die bisher nicht aktiv sind, also potentielle Verbündete sein könnten.